Sterbendes Volk - Das dunkle Schicksal der Andorianer

 

Aus den Serien und Filmen ist der Fan von Star Trek gemeinhin gewohnt, den Blick zum galaktischen Horizont zu richten und philosophisch-heroische Fragen über die letzte Grenze anzustellen. Alles, was bis zur Linie, ab der das Unbekannte verläuft, bereits entdeckt worden ist, wird als gegeben vorausgesetzt. Was um die nächste Ecke vor sich geht, ist in der Regel nicht mehr interessant.

 

Dass ein zweiter Blick aber häufig ein ganz neues Verständnis des vermeintlich Bekannten eröffnet, hat die Star Trek-Literatur in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Ein besonders gutes Beispiel hierfür ist die Neuvermessung der Andorianer und ihrer Kultur: Mit dem Anbruch des Deep Space Nine-Relaunch erfahren wir von einem äußerst bedrückenden Geheimnis, das das Gründungsvolk der Föderation seit langem mit sich trägt und das sein weiteres Schicksal bestimmt.

 

Vier Geschlechter? - Informationsfetzen werden neu verwoben

 

Lange musste das Publikum von Star Trek darauf warten, bis die Franchise-Macher dem allgemein gehegten Wunsch entsprachen, die Spezies der Andorianer – bislang nur in der klassischen Serie erschienen (vgl. TOS 2x10: Reise nach Babel) – stärker zu beleuchten. In Enterprise, der fünften und bis dato letzten Serie, war es endlich soweit: Das historische Szenario um Captain Archer, seine Crew und den Weg zur Gründung der Föderation bereitete einer stärkeren Thematisierung des Volks der blauhäutigen Antennenträger die Bühne (vgl. Enterprise 1x07: Doppeltes Spiel). 

 

Mit Kumari-Kommandant Shran fanden wir den Vertreter einer temperamentvollen, stolzen Spezies vor, die in einem jahrzehntelangen Clinch mit den Vulkaniern steckte. Archer musste seine ganze diplomatische Kompetenz investieren, um das anfängliche Misstrauen Shrans zu beseitigen und die andorianisch-vulkanischen Auseinandersetzungen zu schlichten (vgl. Enterprise 2x15: Waffenstillstand). Ansonsten aber und von ihrem exotischen Äußeren einmal abgesehen, schienen die Andorianer nur wenig Neues oder Originelles zu bieten. Sie kämpften mit Klingen wie Klingonen und lieferten sich zudem Raufereien mit Tellariten. War das lange Warten auf dieses Volk eine Enttäuschung oder sahen wir vielleicht nur einen Teil des ganzen Bildes?

 

Letzteres scheint beinahe zuzutreffen, wenn wir uns an eine Bemerkung in der TNG-Episode Datas Tag erinnern, in der die andorianische Rasse mit einem Mal nicht mehr das zu sein schien, wofür man sie lange Zeit gehalten hatte. Die Rede war da plötzlich von ‚vier Geschlechtern‘ – nur ein kurzes Aufflackern einer neuen Information, mehr nicht. Trotzdem kratzte man sich da durchaus am Kopf, denn in Enterprise haben wir nur männliche und weibliche Vertreter des blauhäutigen Volks zu Gesicht bekommen. Oder dachten dies zumindest. An diesen offenen Widerspruch begaben sich S.D. Perry, David R. George III und andere Autoren, indem sie in der achten Staffel von DS9 eine neue Sicht auf die Andorianer präsentierten.

 

Neue Sicht auf die Andorianer - und ein düsteres Geheimnis

 

Heraus kam die allmähliche Entschleierung eines überaus düsteren Geheimnisses, das die andorianische Kultur seit geraumer Zeit umweht und über das kein Angehöriger gerne spricht. So existieren tatsächlich vier Geschlechter (Chan, Thaan, Zhen und Shen), und die Fortpflanzung ist dementsprechend komplizierter als bei normalen humanoiden Spezies. Zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt müssen sich genetisch füreinander bestimmte Vertreter aller vier Geschlechter zusammenfinden und einen Nachkommen zeugen. Das bedeutet physischen und psychischen Stress und nicht zuletzt einen großen Zeitaufwand (vgl. Roman DS9: Portale –Dämonen der Luft und Finsternis; Mission Gamma – Zwielicht).

 

Als wäre dies allein nicht schon unglaublich schwierig, zeigt uns der weitere Verlauf des DS9-Relaunch, dass das andorianische Volk in den vergangenen Jahrhunderten immer mehr in eine Fertilitätskrise hineingeraten ist – die Wahrscheinlichkeit, dass die vier Geschlechter sich fortpflanzen können, sinkt immer weiter und weiter. Damit befindet sich dieses Volk in der zweiten Hälfte des 24. Jahrhunderts in einer existenziellen Situation und wird auf absehbare Zeit, wenn sich die Dinge nicht rasch ändern sollten, ausgestorben sein. Na bitte: Wer sagt jetzt noch, die Andorianer hätten nichts Besonderes zu bieten?

 

Tirishar ch'Thane - Vertreter des 'ganzen' Andoria

 

Die Person, anhand derer wir in der Fortführung von DS9 die durchaus dramatische Entwicklung der Andorianer dicht verfolgen dürfen, ist der Wissenschaftsoffizier Tirishar ch’Thane (kurz: Shar). Auch in seinem individuellen Kosmos manifestiert sich die Katastrophe, der die Andorianer mit zunehmendem Geburtenrückgang verfallen sind: Einstmals ein stolzes, engagiertes Volk in der Föderation, haben sie sich immer stärker auf sich selbst zurückgezogen und – in ihrem Bemühen, den grauenvollen Trend des Aussterbens zu wenden – ihren Angehörigen Zwänge aufoktroyiert, die mit dem Shelthreth-Ritual eng verknüpft sind: Einmal in seinem Leben soll jeder Andorianer, wo er sich auch befindet, in seine Heimat zurückkehren und dort die Fortpflanzung vollziehen, um seinem Volk einen Dienst zu leisten. Das ist höchste Pflicht, und alles andere wäre Vaterlandsverrat.

 

Shar, der in die Sternenflotte ging, um Idealen der Freiheit und Selbstfindung zu frönen, ist innerlich hin und hergerissen. Er merkt, was um ihn herum mit seiner Spezies geschieht: Sie hat nicht nur ihre Kinder, sondern zugleich auch ihr ursprüngliches Wesen verloren. Fortpflanzung ist zu einem Imperativ geworden; Bünde fürs Leben werden nicht mehr geschlossen, weil die Personen dies wünschen oder weil Liebe eine Rolle in ihrem Dasein spielt, sondern ausschließlich der Rettung des andorianischen Volks wegen. Das ist ein verhängnisvoller Trend, und der junge Sternenflotten-Offizier nimmt in der Folge große persönliche Opfer auf sich, um eine Lösung für die Existenznot seiner Leute zu finden. Trotzdem fragt er sich zuweilen, ob die Andorianer, indem sie sich derart verbogen haben, um zu überleben, im Grunde nicht die beste Begründung dafür liefern, eines Tages nicht mehr zu sein.

 

Die andorianische Krise geht weiter - Ausgang ungewiss

 

Auch nach der achten Staffel von DS9, soviel ist sicher, wird uns die andorianische Krise weiter beschäftigen. Dabei wird die Entwicklung so dramatisch, dass sich die einstmaligen Mitbegründer der Föderation ernsthaft Gedanken darüber machen müssen, ob ihr Verbleib in der Planetenallianz überhaupt noch in ihrem Sinne ist. Auf diese Weise gerät die Überlebensfrage des andorianischen Volks zu einer Identitätsfrage für die Föderation insgesamt. Verzweifelte Helden wie Shar stecken mitten in diesen Vorgängen und müssen sich zwischen Sternenflotte und Andoria entscheiden, die immer weiter auseinanderzudriften drohen.

 

Wird man schließlich doch noch ein Heilmittel finden? Werden die Andorianer überleben? Eines ist jedenfalls gewiss: Nie zuvor waren die Andorianer so spannend wie in den Star Trek-Romanen.