VorbemerkungAbyss unterliegt einer Doppelzuordnung. Es handelt sich zum einen um den dritten Band der achten DS9-Season, zugleich gehört der Roman zur Section 31-Reihe, einem losen und serienübergreifenden Verbund von Geschichten rund um die finsteren Machenschaften der gleichnamigen Geheimorganisation. Die Section 31-Romane hängen untereinander nicht zusammen (einzige Ausnahme sind die letzten Teile der Reihe, Disavowed und Control, die unmittelbar aufeinander folgen).
InhaltUnmittelbar nach den Ereignissen des Avatar-Zweiteilers: Auf DS9 geht vieles drunter und drüber, seitdem der Fusionskern den Geist aufgegeben hat und die Station sehnsüchtig auf einen Ersatz wartet. Rettung naht, als Nog mit der U.S.S. daVinci von der verlassenen Schwesterstation Empok Nor zurückkehrt, deren Kern sie entnommen und mitgeführt haben. Währenddessen ist Julian Bashir reif für die Insel - ein romantischer Erholungsurlaub mit Ezri Dax auf Risa steht an. Dummerweise bekommt der Arzt, kaum ist seine Reisetasche gepackt, unerwartet Besuch: von einem Sektion-31-Agenten.
Der und seine Gruppierung (mit der Bashir nach den zurückliegenden Erfahrungen eigentlich nie wieder etwas zu tun haben wollte) haben ein kleines Problem: Ein genetisch aufgewerteter Wissenschaftler namens Ethan Locken, ursprünglich von Sektion 31 rekrutiert, ist fahnenflüchtig geworden und hat sich einem größenwahnsinnigen Plan verschrieben. Ursprünglich im Auftrag der Sektion, begann Locken damit, in einer vom Dominion geschaffenen, geheimen Jem'Hadar-Brutstätte auf dem Planeten Sindorin in den Badlands zu ermitteln, ob sich die Anlage so modifizieren lässt, dass die entstehenden Jem'Hadar der Sektion gegenüber loyal wären. Damit wollte die Sektion die militärische Stärke der Föderation zu Verteidigungszwecken erhöhen. Jedoch hat Locken, traumatisiert durch einen Angriff des Dominion auf seinen früheren Arbeitsort auf dem Föderationsplaneten New Beijing, den Kontakt zur Sektion abgebrochen und mittels Gentechnik begonnen, die neuen Jem'Hadar ihm gegenüber gefügig zu machen.
Nun gedenkt der größenwahnsinnige Wissenschaftler, eine neu gezüchtete, ihm loyale Privatarmee aus dem Boden zu stampfen, um als zweiter Khan Noonien Singh eine neue Epoche der eugenischen Herrschaft einzuleiten. Mehr noch: Wie sich später erhärten wird, will Locken den Waffenstillstand zwischen Föderation, Klingonen und Romulanern schwächen, indem er eine Rakete auf ein romulanisches Ziel abschießt und die Schuld dafür der Föderation zuschiebt. Bashir merkt, wie sein anfänglicher Widerstand gegen seine erneute Rekrutierung bröckelt. Die Hoffnungen von Sektion 31 liegen auf ihm, weil Locken wie er genetisch erweitert ist. Ergo hat Bashir damit wahrscheinlich bessere Karten als jemand anderes, den durchgedrehten Forscher zu stoppen. Anstatt einer risianischen Wellnesskur steht jetzt also Abenteuerurlaub im cardassianischen Grenzgebiet an.
Nachdem Kira und Vaughn eingeweiht wurden, entschließen sich Ezri und Ro Laren, Bashir nach Sindorin zu begleiten. Weil sie es aller Aussicht nach mit veränderten Jem'Hadar zu tun bekommen werden, kann der Arzt durchsetzen, Taran'atar mitzunehmen. Ro, die von allen bislang den besten Draht zum Dominion-Aufseher hat, ringt Taran'atar vor dem Abflug das Versprechen ab, Bashir und den anderen auf der kommenden Mission zu gehorchen und Gewalt nur als allerletztes Mittel einzusetzen. Einen Tag später stößt das Runabout mit Bashirs Team in den Badlands auf ein schwer beschädigtes romulanisches Kriegsschiff, das offenbar von irgendjemandem ausgeschlachtet wurde. Die Crew ist tot. Sie finden eine Aufzeichnung von Locken, in der es heißt, wer immer in dieser Raumgegend auftaucht, verletze die Grenze der so genannten Neuen Föderation. Es liegt auf der Hand: Die Romulaner sind von Lockens offensichtlich höchst einsatzbereiten Jem'Hadar-Soldaten eliminiert worden.
Stunden später erreicht das Runabout den Orbit von Sindorin - und wird prompt von einer cardassianischen Waffenplattform abgeschossen. Ro und Taran'atar können von Bord gebeamt werden, für Ezri und Bashir bleibt jedoch keine Zeit mehr, das abstürzende Gefährt zu verlassen. Während Ro und ihr Jem'Hadar-Begleiter bei ihrem Streifzug durch die Urwälder des Planeten mit den einheimischen Ingavi in Kontakt kommen, geraten Ezri und Bashir in die Fänge von Ethan Locken. Unerwartet gastfreundlich gibt sich der Augment, und je mehr er ihn kennen lernt, desto mehr beginnt sich der Doktor zu fragen, wer eigentlich Freund und wer Feind ist...
KritikEiner der erschütterndsten, aber auch interessantesten Handlungsbögen der DS9-Serie war die Agentenstory um Doktor Bashir und Sektion 31. Das alles fußte auf der zuvor vollzogenen Offenbarung, dass es sich bei Bashir in Wahrheit um eine genetisch erweiterte Person handelt. Allein deshalb, weil die Macher des Relaunch sich diesem Plot angenommen haben, verdient Abyss Lob. Und obwohl es sich in der Epik der literarischen achten DS9-Staffel um kaum mehr als eine Einzelepisode handelt, kann man den Roman als vollen Erfolg werten.
Abyss besticht durch eine prickelnd düstere Atmosphäre, was auch durch die Dialoge mit Ethan Locken unterstrichen wird. Die Spannung wird Stück für Stück aufgebaut, wenn auch der Besuch auf dem romulanischen Schiff nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Und das in den Badlands abgelegene Sindorin hätte als Schauplatz nicht besser erschaffen werden können. Wobei man zugeben muss, dass die Ingavi stark an die Ewoks aus einer konkurrierenden Science-Fiction-Saga erinnern.
Auch, wenn Bashirs Verständnis für Lockens Denkweise sehr glaubwürdig geschildert wird, so kann doch für den Leser von Anfang an kein Zweifel bestehen, dass er trotzdem gegen ihn kämpfen wird. Das trübt die Handlung jedoch keineswegs, denn das eigentliche Thema ist die Vertiefung der Figur Bashirs und dessen genetischer Aufwertung. Wenn Bashir weiß, welche grässlichen Dinge Locken vorhat (nämlich mittels ultragefährlicher Prione die vermeintlich minderwertigen Spezies im Alpha-Quadranten zu töten) und dennoch in einem Winkel seiner Seele ein schlechtes Gewissen hat, dem Mann, mit dem ihn gewisse Dinge verbinden, das Handwerk zu legen, ist das bereits der Punkt in Abyss, der eine tief liegende Zerrissenheit im DS9-Arzt zum Vorschein treten lässt.
Es geht also gar nicht um die Frage, ob er sich Locken anschließt, sondern wie er auf jemanden von seinem Schlag reagiert. In vielerlei Hinsicht repräsentiert Locken nämlich eine Art Spiegel-Bashir. In wohl keinem anderen Roman lässt sich so gut nachfühlen, wie es sein muss, genmanipuliert zu sein. Überdies erscheint Locken durch seine Erfahrungen auf New Beijing nicht nur als der böse Agitator, sondern auch als Opfer - nämlich das Opfer einer gewissen Geheimorganisation, die auch ihn eiskalt benutzt hat. Wie sich herausstellt, hat die Sektion den Tod von Tausenden Personen in Kauf genommen, nur um Locken zu manipulieren, damit dieser sich bereitwillig rekrutieren lässt.
Obwohl Bashir der zweifellos dominierende Protagonist in Abyss ist, gibt es noch mindestens eine weitere Person, die sich unter Einwirkung der Geschehnisse verändert. Die Rede ist von Taran'atar. Der kritische Moment des Retortenkriegers liegt in der Begegnung mit den von Locken gezüchteten Jem'Hadar, die keinerlei Abhängigkeit von den Gründern verspüren. Als der Locken-Jem'Hadar-Erste Taran'atar vorwirft, er und die Jem'Hadar im Dominion seien Sklaven, muss sich letzterer eingestehen, dass die Ordnung der Dinge manipulierbar ist. Und wenn sie schon manipulierbar ist, wäre es dann nicht möglich, dass die Jem'Hadar bloß Schachfiguren in einem fremdbestimmten Spiel darstellen? Zwar sterben die Locken-Jem'Hadar am Ende mitunter deshalb, weil sie ahnen, dass sie einem falschen Gebieter dienen, aber befreit das Taran'atar nicht von seinen Selbstzweifeln. Könnten wir die Geburtsstunde einer kleinen Emanzipation von den Gründern erleben? Wir müssen abwarten.
Auf jeden Fall wird das Thema Glauben und Loyalität Taran’atar weiter beschäftigen – Themen, mit denen der DS9-Relaunch kräftig arbeitet. Gerade in der Person Kiras wird er jemanden finden, der gewissermaßen ein ähnliches Problem hat. Auch Kira durchläuft nach ihrer Exkommunikation aus der bajoranischen Religionsgemeinschaft einen schrittweisen Prozess der Unabhängigwerdung. Sie vertritt mittlerweile die Auffassung, dass die Ergründung des eigenen Glaubens nicht immer ohne Fragen und Konfrontationen abläuft, nicht ohne innere Widersprüche und äußere Abnabelungsprozesse; nur so könne man am eigenen Glauben wachsen und sich schließlich selbst finden.
Eine Person voller Geheimnisse und Tragik scheint auch Elias Vaughn zu sein. Nicht nur, dass er sich scheinbar erstaunlich gut mit Sektion 31 auszukennen scheint, wie das Ende des Romans offenlegt, auch das Verhältnis zu seiner Tochter scheint mit einer schweren Hypothek belastet zu sein. Die Vorlage ist viel versprechend. Es bleibt abzuwarten, was künftige Autoren aus dem neuen DS9-XO herausholen werden.
FazitEin durch die Bank gelungenes Buch, das die Story um den (Möchtegern-)Agenten Bashir aus der TV-Serie treffend weiterentwickelt und gleichzeitig mit seiner genetischen Erweiterung verknüpft. Eine Charakterstudie par excellence. Die Atmosphäre rundet das ganze Geschehen trefflich ab. Abyss gehört nicht zu jenen Romanen, die den Fehler begehen, sich im Kleinklein einer ausufernden Story zu verlieren, sondern verfolgt Bezüge und Leitmotive ernsthaft. Auch die Veränderungen auf DS9 lassen Hoffnung keimen, dass man es bei diesem Relaunch mit etwas ganz Besonderem zu tun hat.
9/10 Punkten. 3-2009 |
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