Greater Than The Sum

Autor: Christopher L. Bennett
Erscheinungsjahr: 2008
Seitenzahl: 350
Band: 6

Zeitraum: 9/2380-1/2381

 

Vorbemerkung

 

Der fünfte Roman der Second Decade, Greater Than The Sum, setzt in direkter Weise die Handlung aus Before Dishonor fort und leitet in die Destiny-Trilogie über.

 

 

Inhalt

 

Nach der Assimilation ist vor der Assimilation…ähm Absorbtion, Prokreation... Oder wie war das doch gleich? Richtig, die Borg sind nach einer weiteren Beinahekatastrophe, die u.a. Kathryn Janeway erst zu einer kybernetischen Königin machte und anschließend in hohem Bogen aus dem Trek-Universum der Lebenden katapultierte, wieder einmal vermeintlich weg vom Fenster. Nach der Vernichtung des Megaborgwürfels ist auch von der assimilierten U.S.S. Einstein keine Spur mehr zu finden, und so geht Jean-Luc Picard lieber seiner Vermählung mit Beverly Crusher nach als Gespenster zu jagen.

 

Doch die Ruhe währt nicht lange: Kaum haben Beverly und er die Flitterwochen hinter sich, meldet sich Admiral Nechayev bei Picard. Die Einstein (oder Frankenstein, wie man sie jetzt gewendet nennt) ist von der U.S.S. Rhea gesichtet worden – inmitten eines entlegenen Clusters, in dem eine mysteriöse Zivilisation offenbar einen fortschrittlichen Slipstreamkanal konstruiert hat. Er könnte es der kleinen Gruppe evolutionär weiterentwickelter und technologisch hochgefährlicher Borg erlauben, zum Kollektiv im Delta-Quadranten zurückzukehren – oder eben Verstärkung zu holen. Und wenn es ihnen obendrein gelingt, die besagte Technologie zu assimilieren, steht die Erde gleich vor einer Masseninvasion.

 

Prompt macht sich die Enterprise mit Maximum-Warp auf den Weg in den Cluster, samt einiger 'Spielzeuge' im Gepäck, die von Professor Annika Hansen perfektioniert wurden, darunter Prototypen der neuen Generation von Transphasen-Torpedos. Mit von der Partie ist – nebst einiger neuer Gesichter im fluide gewordenen Teil der Führungscrew – auch eine gewisse halbvulkanische Lieutenant T'Ryssa Chen, ihres Zeichens einzige Überlebende der Rhea, die vermutlich der Frankenstein zum Opfer fiel. Aus unklaren Gründen wurde Chen allerdings von den Clustereinwohnern – genannt 'Noh Angels' – per Slipstream in Sicherheit gebracht. Picard nimmt sie mit, weil er vermutet, sie könnte ihm nützlich auf der Mission sein.

 

Nach Wochen der Reise endlich im Cluster angelangt, stellt die Enterprise fest, dass diese Raumregion nicht so ist, wie es den Anschein hat. Die 'Noh Angels' scheinen ihrerseits so eine Art Kollektiv der organischen Art zu bilden und die eigentümlichen Planetenanordnungen dafür zu nutzen. Es dauert nicht lange, bis in Chens Quartier eines der Wesen auftaucht, im Gefolge eines Traums, den sie hatte. Zwar verschwindet es gleich wieder, aber diese Begegnung verleitet zu wichtigen Erkenntnissen: Die 'Noh Angels' scheinen das Unterbewusstsein Chens anzuzapfen und daraus Abbilder herzustellen; aus diesem Grund konnten sie sie auch retten und auf eine Welt aus ihrer Erinnerung befördern. Das bedeutet, sie existieren nicht als organische Wesen, sondern eher als große telepathische Entität, die sich selbst reproduziert.

 

Offenbar ist Chen die Einzige, die Signale von den 'Noh Angels' erhält. Mithilfe der (wieder einmal) neuen Sicherheitschefin, Jasminder Choudhury, gelingt es ihr, in künstlichen Schlaf versetzt, Kontakt zu den telepathischen Kreaturen aufzunehmen. Auf diesem Wege bekommt Chen ein Zeichen von der 'Noh Angels', und sie findet heraus, dass die Wesen weder etwas gegen die Sternenflotte noch gegen die Borg haben, aber sehr wohl dagegen, dass sie in ihrem Reich gegeneinander kämpfen. In dem Moment, wo Chen assimiliert werden sollte, katapultierten sie sie und die Borg per Slipstream in unterschiedliche Richtungen. Mystery managed.

 

Die Frage indes, was mit der Rhea und deren Mannschaft geschehen ist, bleibt weiter offen. Wenig später bietet die Clusteridentität der Enterprise mittels eines Slipstreamvortex die Möglichkeit, zum vermissten Sternenflotten-Kreuzer zu gelangen. Hier zeigt sich, dass die 'Noh Angels' sich als Beschützer von Leben per se verstehen. Die schwer beschädigte Rhea haben sie mithilfe einer Blase in der Raumzeit eingefroren. Sie sind verwirrt, weil sich die halb assimilierten Crewmitglieder nicht eindeutig den Borg oder der Föderation zuordnen lassen. Von der Frankenstein hingegen keine Spur.

 

Dann taucht plötzlich ein anderes Borgschiff auf, das Picard vage bekannt vorkommt. Es stellt sich als jenes von Hughs unabhängig gewordener Borgpopulation heraus. Damit folgt nicht nur ein herzliches Wiedersehen, sondern auch die Vorbereitung für den unabwendbaren Kampf. Denn Hugh weiß, dass die Frankenstein auf dem Weg hierher ist, um die Entität samt Slipstreamtechnologie zu assimilieren…

 

 

Kritik

 

Die Borg sind böse. Das ist eigentlich allen klar. Daher müssen sie bekämpft werden. Was macht man aber, wenn man auf eine Spezies trifft, die nicht nur unglaublich mächtig ist, sondern auch keinen Sense für Gut und Böse hat? Wenn dieses Wesen nun aber noch ein Problem damit hat, jemand anderem Schaden zuzufügen, dann ist Überzeugungsarbeit gefragt. Arg verknappt ist das die Handlung von Greater Than The Sum: Die 'Noh Angels' davon zu überzeugen, dass die Borg böse sind.

 

TNG-Relaunch, Borg-Relaunch… Die Grenzen zwischen diesen beiden Begrifflichkeiten scheinen aus der bisherigen Erfahrung der Second Decade eher fließend geworden zu sein. Und obwohl es weißgott niemanden mehr vom Hocker reißt, dass die kybernetischen Invasoren erneut durch widrige Umstände zurückkehren, weiß Greater Than The Sum handlungstechnisch durchaus zu überraschen. Denn im Gegensatz zu den vorhergegangenen Romanen, die sich in der bloßen Wiedererweckung der intergalaktischen Schreckensgestalten ergossen (oder, um es auf die Spitze zu treiben, im ziemlich platten Opfern jahrelanger Serienprotagonisten!), ist Christopher L. Bennetts Ansatz nicht nur dezenter, sondern auch geschmeidiger und vielfältiger.

 

Die Motivation und Handlungsweise des ungewöhnlichen kollektiven Zusammenschlusses von Wesen ('Noh Angels') sind spannend, amüsant und nachvollziehbar geschildert. Zwar dauert es ein wenig, bis der Roman sich den Kohlenstoffplaneten zuwendet, aber ab diesem Moment löst sich er sich dankbarerweise schnell vom bislang praktizierten Borgschema. Es ist meines Erachtens das erste Werk in der Reihe, das so etwas wie Sense-of-wonder-Feeling verströmt.

 

Von vorneherein ist auffällig, wie der Autor sein Werk mit unglaublich vielen Quellenbezügen andickt. So werden zahlreiche Borg-Auftritte aus der Trek-Geschichte und einige Romanwerke aufgegriffen und miteinander vermengt, auf dass teilweise interessante Erklärungen dabei herauskommen, die Lücken in der offiziellen Geschichte schließen und neue Blicke auf die bionische Zivilisation ermöglichen. Das indes müsste freilich dort seine Grenze haben, wo es für den Leser, der nicht gerade jedes Detail aus Serien und Filmen im Kopf hat, zu kompliziert wird. Tut es leider nicht. Bennett verfällt dem für ihn typischen Reflex, sein Werk mit Canonverbindungen zu verkleistern.

 

Das tut der vitalen Story nicht immer nur gut, führt mitunter zu einigen rätselhaften Wendungen, zum Beispiel einem etwas abenteuerlich hergeleiteten Wiederauftauchen des Borg namens Hugh. Die zunächst erfolgende Weigerung Picards, ein Kind in die Welt zu setzen, auf seine Kataan-Erfahrung aus der TNG-Episode The Inner Light zurückzuführen, mag canontechnisch von einem aufmerksamen Geist zeugen, die Lebenswirklichkeit der Erzählung aber leidet mehr darunter. Unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung von struktureller Einbettung und kreativer Weitererzählung hat das Buch von vorneherein eine gewisse Schlagseite; es gibt Licht und Schatten.

 

Glücklicherweise war das nicht alles. Es gibt es diesmal weit mehr Positives zu vermelden als im Fall von Before Dishonor, wo aus lauter Verzweiflung mit dem Bauernopfer Janeway geworfen wurde. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Borg nicht allzu sehr im Vordergrund stehen und auch der ominösen Clusterentität ein gebührender Platz eingeräumt wird, mit einem gewissen Händchen für gute Inszenierung. Vor allem aber der Umgang mit den Charakteren – ein Punkt, unter dem der TNG-Relaunch bislang in erheblichem Maße zu leiden hatte - sticht heraus. Zwar wird die Diskontinuität in der Führungsmannschaft zunächst fortgesetzt, dass der Leser angesichts des Kommens und Gehens immer neuer Personen den Kopf schütteln mag (so verschwindet Counselor T'Lana sang- und klanglos wieder, auch der taktische Offizier Leybenzon), aber diesmal versprechen die Neuen wirklich mehr als nur ein bisschen kurzlebigen Anstrich. Beispiele dafür sind die erfrischend-nervöse Chen, aber auch die neue Sicherheitschefin Choudhury und eine sich wandelnde Miranda Kadohata.

 

Noch mehr wissen die alten Charaktere zu überraschen. Unter dem Story-Oberthema, das diesmal weniger 'Borg' als das Stichwort 'Procreation' ist, entwickelt Bennett gekonnt neue Leitmotive für die ergrauten Protagonisten der Enterprise. Dabei geht es nicht nur um eine bloße Fortpflanzungsdebatte – wie sie zwischen Picard und Crusher ein wenig seltsam anmutet –, sondern sehr wohl auch um eine abstrakte menschliche Komponente: ein Vermächtnis in die Welt zu setzen und dafür Verantwortung zu tragen. Worf schlägt diesen Weg auf seine Weise ein, indem er die Rolle des Ersten Offiziers mit dem nötigen Schuss Weisheit auszuüben lernt, und Geordi, nach wie vor umgetrieben von einem schlechten Gewissen gegenüber B-4, lässt seinerseits auf weitere Entwicklungen hoffen.

 

Heimlicher Höhepunkt charakterlicher Interaktion ist aber ein Dialog zwischen Guinan und Picard, in deren Zusammenhang nicht nur die geistige Essenz der Story diskutiert wird; auch wird eine Begründung gegeben, weshalb die mysteriöse El-Aurianerin in Zukunft nicht mehr an den Reisen der Enterprise teilnehmen wird. So sehr man über Details der charakterlichen Entwicklung streiten mag: Erstmals seit dem Anbruch der Second Decade wird der ernsthafte und gesamtheitliche Versuch unternommen, die TNG-Stammleute in einem anderen Licht zu neuer Würde zu führen.

 

Der Epilog leitet dann über in die Destiny-Trilogie, ein Crossover aus dem TNG- und DS9-Relaunch sowie Star Trek: Titan. Wird auch dort die charakterliche Perspektive vorangetrieben, mag ein Ende der pedantischen Schießbudenkämpferei gegen plumpe bionische Zombies endlich in Sicht sein. Trotz noch mehr Borg. Wir werden sehen.

 

 

Fazit

 

Endlich - ein Silberstreif am TNG-Horizont. Waren die Methoden bisheriger TNG-Relaunch-Romane, Leser anzulocken, ein Reinfall, rennt Greater Than The Sum nicht ein weiteres Mal mit dem selben Kopf gegen die selbe Wand. Zwar scheinen die Borg mittlerweile mit der Second Decade zwangsverschmolzen worden zu sein, aber Autor Bennett beweist lobenswertes Geschick darin, dieses Korsett nicht zu eng werden zu lassen. Mit Blick auf die Canongetreue, aber insbesondere den Umgang mit den bis dato eher stiefmütterlich behandelten Protagonisten ist sein Werk ein echter Hingucker. Mit der nötigen Sanftheit macht er sich daran, die enttäuschenden Elemente bisheriger Erzählungen zu entfernen und durch neue zu ersetzen. Das lässt nachdrücklich auf Besserung hoffen.

 

Sich den inzwischen doch recht hochaltrigen Picard indes als werdenden Vater vorzustellen, darüber mag manch ein Serienkenner nicht richtig hinweg kommen...

 

6/10 Punkten.

11-2008