VorbemerkungMit dem großen Finale Unity hat die achte DS9-Staffel ihr Ende gefunden. Die Parasiten-Bedrohung konnte abgewendet werden, Bajor wurde doch noch Föderationsmitglied, und die politreligiöse Pluralisierung des Planeten wurde nicht der befürchtete Spaltpilz. Abgesehen davon kehrte Benjamin Sisko von den Propheten und sein Sohn Jake aus dem Gamma-Quadranten zurück – mitsamt einer ehemaligen Kai, die viel zur Befriedung Bajors beitragen konnte.
Trotzdem blieben Fragen offen, und Pocket Books dachte nicht daran, an dieser Stelle mit dem DS9-Relaunch aufzuhören. Also überlegte man sich ein neues Konzept und schuf im Anschluss an Unity die Worlds of DS9-Reihe. Es handelt sich dabei um sechs kompakte Geschichten, die einen sehr speziellen Fokus haben. Deep Space Nine hat zu Serienzeiten ganz bestimmte Welten schwerpunktmäßig und wiederkehrend thematisiert; bei der Romanfortsetzung kam sogar das eine oder andere Volk neu dazu.
Nun stehen eben diese Völker im Mittelpunkt der Geschichte. Die heimatlichen Gefilde der Cardassianer, Andorianer, Trill, Bajoraner, Ferengi und des Dominion werden besucht und die aktuelle Situation dieser Spezies in den Blick genommen. Es geht darum, auf Basis bisheriger Informationen in Serien und Filmen ein möglichst dichtes und schlüssiges Bild ihrer Kulturen zu zeichnen und zugleich ein umwälzendes Szenario in der Gegenwart mitzuerleben, das einschneidend für diese Lebensgemeinschaften, ihre politische Zukunft und ihr Selbstverständnis ist.
Die DS9-Crew begleiten wir nicht mehr ganzheitlich, dürfen aber dafür einigen ausgewählten Helden über die Schulter schauen, die es auf die eine oder andere Welt verschlägt. Das bietet immerhin die große Chance, sich auf bestimmte Figuren und Figurenkonstellationen zu konzentrieren und Neues auszuprobieren.
Obwohl im englischen Original immer jeweils zwei Geschichten in einem Band veröffentlicht wurden, wird im Folgenden jede Worlds of DS9-Geschichte einzeln rezensiert und bewertet, da alles andere wenig Sinn machen würde.
InhaltAuf Andoria herrscht eine tiefe politische Krise. Die aus vier Geschlechtern bestehende Spezies, die immer mehr in eine dramatische Fertilitäts-Abwärtsspirale geraten ist, sieht ihrem eigenen Aussterben entgegen. Hinzu kommen aktuelle Problematiken und politischer Sprengstoff.
Mit seiner Entscheidung, sich von seinen traditionellen Bündnisverpflichtungen loszureißen und an Bord der U.S.S. Defiant in den Gamma-Quadranten zu reisen, hat Fähnrich Thirishar ch’Thane auf Andoria die Runde gemacht. Dabei hat Shar nicht bloß der traditionellen Verbindung entsagt, sondern die Yrythny-Eier, welche beim andorianischen Fortpflanzungsproblem helfen sollen, in den Alpha-Quadranten gebracht, sodass er nun planetenweit bekannt ist.
Die Einen bewundern, die Anderen hassen ihn dafür. Immerhin hat sich eine seiner Bündnispartnerinnen im Gefolge seines selbstbestimmten Abflugs mit der Defiant aus Verzweiflung das Leben genommen, und die Möglichkeit, dass irgendein fremdes Genom die andorianische Fortpflanzungskrise mildern soll, trifft auch nicht überall auf ungeteilte Begeisterung. Nun hat seine ‚Mutter‘ (Zhavey) Vretha, die für Andoria im Föderationsrat sitzt, auch noch Probleme mit politischen Gegnern, die ihr den Platz im Föderationsrat streitig machen wollen; ein gefundenes Fressen dieser konservativen Visionisten ist dabei die polarisierende Rolle, die ihr Kind gespielt hat und die so instrumentalisiert wird, dass Vretha in ihrer Erziehung versagt hätte. Infolgedessen erzwingt Vretha Shars Rückkehr nach Andoria, weil sie ihn in der Verantwortung sieht, sie gegen ihre Widersacher zu unterstützen.
Mit ihm zusammen wird Lieutenant Commander Phillipa Matthias - Thriss' Therapeutin - nach Andoria eingeladen, allerdings um dort an der Begräbniszeremonie von Shars früherer Bündnispartnerin Thriss teilzunehmen (von der er explizit ausgeladen ist). Prynn Tenmei, die seit der Mission Gamma zu Shars engsten Freunden zählt (und für den schweigsamen Andorianer zusehends romantische Gefühle hegt), begleitet auf eigenen Wunsch die beiden Sternenflotten-Offiziere auf die Gründungswelt der Föderation.
Kaum sind sie auf Andoria angelangt, werden Gerüchte laut, dass in geheimen Wissenschaftslaboren mithilfe der Yrythny-Eier bereits an einem konkreten Verfahren gearbeitet wird, das aus den vier andorianischen Geschlechtern zwei machen kann. Dadurch erlebt das Volk der Andorianer eine dramatische Spaltung in zwei Lager. Während die eine Hälfte in dem Verfahren die Rettung erblickt (dieser Teil der Bevölkerung bezweifelt nämlich, dass die vier andorianischen Geschlechter ursprünglich von der Natur vorgesehen wurden), fürchtet die andere konservative Hälfte den vollständigen Zerfall ihrer Kultur und allem, woran sie sich noch festhalten können. Die Folge ist eine extreme Spannung, die sich wenig später in offenen Tumulten und auch Anschlägen entlädt.
Bei Vretha angelangt, kommt es zwischen ihr und Shar zum Streit. Shar erfährt von seiner ‚Mutter‘, dass sie ihn schon seit langem hat beschatten lassen, um ihn zu beschützen. Zudem versucht Vretha ihren Sohn dazu zu zwingen, bei ihr zu bleiben. Aus Bestürzung darüber flieht Shar zusammen mit Prynn in einem Shuttle nach Harbortown. Als eine Art Bürgerkriegsszenario und obendrein noch ein handfester Sturm ausbricht, müssen Shar und Prynn um ihr eigenes Leben kämpfen und sich auf Andoria irgendwie durchschlagen. Diese Umstände sorgen dafür, dass sie ausgerechnet beim Clan seiner verstorbenen Gefährtin Zuflucht suchen müssen. Obwohl Shar dort alles andere als willkommen ist, darf er aufgrund der andorianischen Gastfreundschaftstraditionen bleiben.
Doch die Lage läuft einem neuen Höhepunkt entgegen, als Vretha von Anhängern der Visionistenpartei entführt wird. Die Regierung wird von den Entführern damit erpresst, binnen eines Tages die angeblich unethischen und verschwörerischen Forschungsarbeiten im andorianischen Wissenschaftsinstitut umfassend zu untersuchen. Shar, Prynn und Matthias brechen zu einer Befreiungsaktion auf und können Vretha retten. Im Zuge ihrer Rettung stellt sich heraus, dass die Vorwürfe in Bezug auf Forschungen zur Reduzierung der Geschlechter zutreffend sind. Ziel dieser Studien ist eine erhöhte Fruchtbarkeit der Andorianer durch Verlängerung der potenziellen Empfängniszeit sowie eine Steigerung der genetischen Kompatibilität. Vrethas Entführer wollen diese Forschungen mit Hilfe ihrer Entführung verhindern. Sie haben tatsächlich Furcht davor, dass die Identität und schiere Seele der Andorianer gegen das blanke Überleben eingetauscht wird.
Für Prynn Tenmei ist die abenteuerlastige Reise nach Andoria eine wichtige und einschneidende Erfahrung, bei der sie die Lebensart und Kultur von Shar unmittelbar kennenlernt und sich über ihre Gefühle dem schweigsamen und doch so ehrenvollen Andorianer gegenüber bewusst wird. Das macht die Situation jedoch nur noch problematischer. Shars innerer Zwiespalt wächst, und auch er droht – so wie sein Volk – im wahrsten Sinne des Wortes zu zerreißen…
KritikBereits im Verlauf der ersten Buchstaffel wurde mit Shar ein ausgesprochen reizvoller, sympathischer und doch ominöser, von inneren Zweifeln getriebener Charakter etabliert. Während sein Volk von ihm erwartete, mit seinen Bündnispartnern für Nachwuchs zu sorgen, entschied Shar sich stattdessen für seinen Traum und damit die Expedition in den Gamma-Quadranten (Twilight). Dies führte, wie gesagt, dazu, dass eine seiner Bündnispartnerinnen, sich aus Verzweiflung das Leben nahm; später brachte Shar der Föderation die Yrythny-Eier (This Gray Spirit). Nach Cardassia widmet sich die Worlds of STDS9-Reihe jetzt dem Volk der Andorianer, was aufgrund der Präsenz von Shar im Season-8-Cast nahe liegend war.
Mit ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit, den vier Geschlechtern, ihrem langsamen Aussterben und den schwierigen innenpolitischen Problemen handelt es sich zweifellos um eine hoch interessante Gesellschaft mit großem erzählerischem Potenzial. Nun ist die Gelegenheit da, sie in einem intensiven Panorama aus den Augen der drei Protagonisten genauer kennenzulernen.Heather Jarman hat sich dieser herausfordernden Aufgabe angenommen und in ihrem Buch Paradigm die Chance ergriffen, die komplexe Kultur Andorias zu beschreiben.
Was sie mit ihrem Werk tatsächlich beweist, ist, dass die Idee mit den vier Geschlechtern und der dahinterstehenden Mythologie innovativ und originell ist – vor allem wenn man bedenkt, welche Konsequenzen sich daraus für die Andorianer ergeben. Ganz wie der Titel besagt, ist Andoria als zerrissene Welt dargestellt, hin und her gerissen zwischen den freiheitlichen Föderationsidealen nach individueller Selbstbestimmung und dem eigenen Überleben, das verknüpft ist mit stark symbolisch aufgeladenen Riten und Traditionen (zwei grundsätzliche Paradigmen prallen hart aufeinander!). Heather Jarman beschreibt die andorianische Lebensweise exakt, insbesondere die Bündnisse und die damit einhergehenden Zeremonien, sodass man nicht nur die Traditionen, sondern auch die existenzielle Lage der Andorianer viel besser begreifen kann. Spannend ist in diesem Zusammenhang die Ambivalenz von Shar als öffentliche Figur. Die unterschiedlichsten Personen versuchen im Verlauf der Handlung, ihn zu manipulieren und als politisches Instrument zu benutzen. Dadurch ist Shar unfreiwillig zum Kristallisationspunkt des innergesellschaftlichen Konflikts geworden.
Die Autorin hat in dem vorliegenden Band die Gelegenheit ergriffen, die Charaktere Shar und Prynn Tenmei und ihre Beziehung zueinander näher in Augenschein zu nehmen und den Figuren so mehr Tiefe zu verleihen. Dies ist insofern kein Selbstläufer, da es sich bei beiden Charakteren um Figuren handelt, die in der TV-Serie nicht vorkommen und die erst mit dem DS9-Relaunch ihr Debüt hatten (gerade Tenmei war anfangs nur eine unbedeutende Randfigur, die über ihre Verbindung zu Vaughn sukzessive mehr Platz gewann). So wie auch die Operation, Andoria mit Leben zu füllen, gelingt der Autorin die Darstellung und Entfaltung der Charaktere Shar und Prynn vortrefflich. Sie waren schon vorher ernst zu nehmende und gut nachvollziehbare Figuren des Casts, erhalten jetzt aber eine neue Dimension von Vertiefung.
Da die ersten Romane des DS9-Relaunch vor der Serie Enterprise erschienen sind, ergeben sich natürlich Widersprüche hinsichtlich der Darstellung der Andorianer. In besagter ST-Show gibt es, wie wir wissen, nur zwei Geschlechter, wobei dies auch purer Augenschein sein kann. Das soll jedoch nicht stören; in der Kontinuität der ST-Romane des späten 24. Jahrhunderts haben die Andorianer eben ihre ganz eigene Kultur erhalten, weil sie vor ENT noch ein unbeschriebenes Blatt waren. Inspiriert wurde die im Relaunch gewählte Darstellung der Andorianer durch Datas Aussage zu andorianischen Hochzeiten in der beliebten TNG-Episode Datas Tag, die ja nun auch nicht mehr zur ENT-Darstellung passt.
Mit ihrem kohärenten, komplexen Worbuilding-Ausarbeitung sorgt Jarman für ein Sense-of-wonder-Feeling. Allerdings gebe ich gerne zu, dass man ab und an bei den ganzen Pronomen, Kosenamen und Beziehungszusammenhängen etwas durcheinanderkommt. Das soll aber keine echte Kritik sein, sondern macht die Lektüre des Buches anspruchsvoll und zugleich faszinierend. Dieses Buch ist ein ganz großer Wurf, der mit Verstand und Präzision ebenso trumpft wie mit Herz an der richtigen Stelle. Heather Jarman gelingt mit diesem Band ein herausragender Beitrag zur Erforschung einer ganzen Spezies.
Das Buch begeht nicht den Fehler, ein Happy End zu präsentieren, was der Dramatik des ganzen Szenarios gerecht wird (dies gilt im Übrigen auch für das Verhältnis zwischen Shar und Prynn; sie können allein deshalb kein Paar werden, weil Shar letztlich auf Andoria bleibt, um an der Forschung an einer Rettungsmethode seines Volkes mitzuwirken und sich als Proband zur Verfügung zu stellen). Die Nachbeben der im Buch beschriebenen Ereignisse werden über die künftige Entwicklung der Star Trek-Romane weitergereicht und insbesondere im Buch Paths of Disharmony wieder aufgegriffen. Wir dürfen also gespannt sein, wie es mit dem kollektiven Schicksal der Andorianer ebenso wie mit dem persönlichen Werdegang Shars weitergehen wird.
FazitAlle Ziele, die sich Jarman vorgenommen hat, werden in großartiger Weise umgesetzt. Ein gut gewähltes Setting, vielschichtige, zerrissene Charaktere und große Veränderungen auf einer der ganz wichtigen Föderationswelten. Paradigm versteht es, den Leser gekonnt zu fesseln und die Exotik ebenso wie die Tragik des andorianischen Volkes fassbar zu machen. Dieses Buch lohnt sich durch und durch.
9/10 Punkten. 8-2015 |
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